Europas Bahnprojekt mit geopolitischer Tragweite

Rail Baltica verzögert sich: Europas Bahnprojekt wird sicherheitspolitischer Risikofaktor
Mit Rail Baltica entsteht im Nordosten Europas eines der ambitioniertesten Bahnprojekte der EU. Die insgesamt 1.060 Kilometer lange Strecke soll von der polnischen Hauptstadt Warschau bis in das estnische Tallinn führen – mit dem Ziel, die baltischen Staaten besser an das europäische Verkehrs- und Logistiknetz anzubinden. Langfristig ist über einen Tunnel zwischen Tallinn und Helsinki auch der Anschluss an Finnland geplant.
Doch das milliardenschwere Vorhaben, das bereits 2014 angestoßen wurde, kommt langsamer voran als erwartet. Nach Informationen des Wall Street Journal und der Moscow Times ist derzeit an vielen Stellen noch keine durchgehende Gleisverbindung vorhanden. Eigentlich sollten erste Abschnitte bis Ende 2024 fertiggestellt sein. Nun wird das Jahr 2030 als realistischer Inbetriebnahmezeitpunkt genannt.
Strategischer Nutzen im zivilen und militärischen Kontext
Rail Baltica ist in erster Linie als Korridor für den Personen- und Güterverkehr gedacht. Darüber hinaus besitzt das Projekt sicherheitspolitische Bedeutung: Im Krisen- oder Kriegsfall soll die Strecke auch dem schnellen Transport von Truppen, schwerem Gerät und Versorgungsgütern entlang der Nato-Ostflanke dienen. Die EU unterstützt das Vorhaben mit rund 27 Milliarden Euro.
Wie entscheidend der Bahnverkehr für militärische Logistik ist, zeigt sich bereits heute. Die Bundeswehr etwa nutzt regelmäßig Züge, um Panzer und andere Fahrzeuge nach Litauen zu transportieren. Bahntransporte gelten als deutlich effizienter als Lkw-Konvois – sowohl im Hinblick auf Geschwindigkeit als auch Kapazität. So kann ein einzelner Zug mit 40 Waggons laut Moscow Times einen rund 6,5 Kilometer langen Militärkonvoi ersetzen.
Auch für Evakuierungen im Krisenfall wird dem Schienenverkehr ein hoher Stellenwert beigemessen. Dem Bericht zufolge könnten auf der Rail-Baltica-Strecke täglich bis zu 143.000 Menschen aus baltischen Städten wie Tallinn, Riga und Kaunas in Richtung Polen gebracht werden.
Sicherheitsrisiko Suwałki-Lücke
Besondere Brisanz gewinnt das Thema durch die geografische Lage der sogenannten Suwałki-Lücke. Dieser etwa 70 Kilometer breite Landstreifen liegt zwischen Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad – und stellt die einzige Landverbindung zwischen den baltischen Staaten und dem übrigen Nato-Gebiet dar. Militärstrategen sehen in der Suwałki-Lücke eine verwundbare Nahtstelle des westlichen Verteidigungsbündnisses.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wird die Region verstärkt beobachtet. Laut internationalen Berichten mehren sich Hinweise, dass Russland dort Truppen, Flugzeuge und Seestreitkräfte zusammenzieht. Fachleute warnen vor einem möglichen Versuch, den Landkorridor zu kappen – was die militärische Versorgung des Baltikums erheblich erschweren würde.
EU-Projekt unter Druck
Die Verzögerungen bei Rail Baltica werfen damit nicht nur infrastrukturelle, sondern sicherheitspolitische Fragen auf. Sollte sich der Bau weiterhin hinziehen, könnte die Nato im Ernstfall vor logistischen Problemen stehen. Kritiker fordern deshalb eine stärkere politische Priorisierung und die zügige Umsetzung des Vorhabens.
Angesichts der aktuellen geopolitischen Entwicklungen kommt dem Projekt mehr als nur wirtschaftliche Bedeutung zu. Rail Baltica ist längst ein sicherheitsrelevanter Bestandteil europäischer Resilienzstrategie – und ihr Stillstand könnte zur strategischen Schwäche werden.
Die langsame Umsetzung von Rail Baltica betrifft nicht nur die Anbindung des Baltikums, sondern berührt zentrale Fragen europäischer Sicherheit. Die Entwicklung im Umfeld der Suwałki-Lücke unterstreicht die Dringlichkeit, das Projekt konsequent und ohne weitere Verzögerungen voranzutreiben. Der Schienenkorridor könnte im Krisenfall zum entscheidenden Faktor für militärische Mobilität und zivile Sicherheit werden – oder zur Schwachstelle, die Europa teuer zu stehen kommt.
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- wsj.com